Lange war ich der Meinung, dass ein ungefärbter, nicht kühlfiltrierter und fassstarker Whisky nach der Destillation direkt ins Fass und nach dessen Reifung direkt in die Flasche kommt, ohne jegliche Zusätze. Umso erstaunter war ich, als ich bei einer Destillierieführung in Bunnahabhain lernte, dass der Whisky dort vor dem Befüllen der Fässer mit Hilfe von destilliertem Wasser auf 63,5% Alkohol gebracht wird. Und tatsächlich sind diese 63,5% wohl der Standard in der Branche.
Im Laufe der Zeit sinkt der Alkoholgehalt im Fass weiter, denn durch die Fasswände verdunstet ein Teil des Whiskys (die Angel Share), und im eher feuchten schottischen Klima verdunstet ein höherer Alkoholanteil als Wasseranteil. Deshalb haben die meisten fassstarken Whiskys, wenn sie in die Flasche kommen, nur noch unter 60% Alkohol.
Aber wie kann es immer wieder Flaschenabfüllungen mit deutlich über 60% geben? Ich fragte deshalb bei der Islay Cask Company nach, wo ich gerade einen hochprozentigen Bruichladdich bestellt hatte. Die sagten mir, dass dieser Füllstärke-Standard nicht mehr so festgeschrieben sei wie damals, als er eingeführt wurde. Gerade Destillerien, die nicht vorwiegend für die großen Blends produzieren, würden ihre Fässer oft mit anderen, höheren Stärken befüllen. Und nach Meinung der jeweiligen Master Distillers führe der höhere Alkoholgehalt zu langsamerer Reifung und ausgewogeneren Whiskys. Außerdem empfahlen sie mir die Januar/Februar-Ausgabe des Whisky-Botschafters, der gerade detailliert darüber berichtet hatte.
Dort konnte ich nun u.a. Folgendes nachlesen:
Der Standard wurde in den 1980er Jahren festgelegt, weil diese 63,5% als optimale Stärke für die Reifung gelten. Der Alkoholgehalt beeinflusst nämlich, welche aromareichen Verbindungen wie schnell aus dem Holz des Fasses herausgelöst werden und trägt somit dazu bei, wie süß, geschmeidig, holzig oder würzig sich der Whisky entwickelt.
Es gibt aber auch Brennereien, die den Alkoholgehalt entsprechend der Vorbelegung eines Fasses wählen, nämlich immer etwas darüber liegend. So mögen jene 63,5% perfekt passen bei Verwendung eines ex-Bourbon-Fasses, aber ein ex-Rotwein-Fass beispielsweise könnte mit einem deutlich niedrigeren Alkoholgehalt befüllt werden. Auch wurden im Artikel Destillerien genannt, die ganz frische Eichenfässer mit nur 55%igem Whisky befüllen und den Alkoholgehalt bei späterer Wiederverwendung der Fässer langsam steigern.
Nochmal zurück zu der oben erwähnten langsameren, ausgewogeneren Reifung bei erhöhter Füllstärke. Es gibt darüber hinaus noch einen betriebswirtschaftlichen Vorteil:
Verlängert man nämlich einen solchen Whisky hinterher bei der Flaschenabfüllung auf Trinkstärke, dann kommt man natürlich mit sehr viel weniger Fässern auf denselben Ertrag, also mit geringeren Fass- und Lagerkosten.
Im vorliegenden Fall wurde nicht verlängert, und so freue ich mich auf den Bruichladdich, der 15 Jahre lang seit 2004 im ex-Sherry-Fass reifte und 2019 mit 64% Alkohol in die Flasche kam. Eine der 290 Flaschen ist gerade auf dem Weg zu mir.
Slàinte Mhath!
Dirk
Update:
Jemand von Bruichladdich bestätigte mir im März 2020, dass sie die Fässer ohne Zusetzen von Wasser befüllen, und dass das durchschnittlich mit 68,7% vol. passiert.